Berlins derzeit höchster Wolkenkratzer soll künftig vor allem vom Internetgiganten Amazon als Coworking-Space genutzt werden. Das Unternehmen rechnet nicht mit dem Widerstand der Bevölkerung. Höchste Zeit, sich gegen Gentrifizierungspolitik und prekarisierte Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen. von John Malamatinas. Zuerst erschienen im re:volt mag.
Das Geheimnis des schrecklichen Turms an der Warschauer Brücke in Berlin wurde gelüftet: Kein anderer als der Internetgigant Amazon wird in das 140 Meter hohe Hochhaus namens EDGE East Side Berlin an der East Side Gallery einziehen. Es ist Berlins vorerst höchster Wolkenkratzer: Auf etwa 55.000 Quadratmetern möchte Amazon ein Forschungs- und Entwicklungszentrum einrichten und dabei 28 der 35 Stockwerke nutzen. Unter dem Label EDGE entstehen aktuell europaweit Bürohäuser, die den Beschäftigten in Coworkingspaces eine „wunderbare Arbeitsatmosphäre“ geben und besonders nachhaltig sein sollen. Allein in Berlin entstehen derzeit am Hauptbahnhof und am Südkreuz zwei weitere Bauten des niederländischen Immobilienentwicklers OVG Real Estate. Und dies ist nur ein kleiner Ausblick auf die kommenden Veränderungen in Berlin – auch Firmen wie Zalando, Lieferando und viele weitere eröffnen derzeit Zentralen oder bauen ihre eigenen Riesenprojekte. Es sind Veränderungen, die tiefe Auswirkungen in das Leben und Wohnen der Hauptstadt haben werden. Denn es ist klar, welche Teile der Bevölkerung durch Tech- und Yuppieeinzug nicht profitieren.
Nicht wild und rau, aber hoch
Der Bau des Hochhaus beschäftigt die Berliner Presse schon seit einigen Jahren – vor allem im Rahmen des großen Umbaus der Stadt, Stichwort Zalando City (auch dieser Konzern eröffnete in derselben Ecke Berlins 2019 seine Zentrale). Im ganzen Stadtgebiet soll „nach oben“ gebaut werden. Immer wieder hat die Senatsbaudirektion das Vergnügen, neue Wolkenkratzerpläne zu präsentieren. Derzeit stehen weitere Projekte in den Startlöchern, die teils noch deutlich höher geplant sind und die Skyline Berlins auf ewig verändern sollen: etwa der geplante Hotelturm „Estrel Tower“ in Neukölln, der 175 Meter messen soll. Seit Jahren gibt es außerdem Pläne von der russischen Monarch-Gruppe für einen 150-Meter-Turm direkt neben dem Einkaufszentrum Alexa am Alexanderplatz.
Senatsbaudirektorin Regula Lüscher (parteillos, aber für die Linke) und ihrem Baukollegium war der Plan des dänischen Architekturbüros Bjarke Ingels Group (BIG) allerdings im September 2018 nicht „wild und rau“ genug – es passte ihnen nicht zum „arm aber sexy“ Image von Berlin. Florian Schmidt von den Grünen hatte sich zudem mehr Grün am Gebäude sowie – hört, hört – mehr Nutzwert für den Kiez gewünscht. Im überarbeiteten Entwurf von Architekt Andy Young wurde deshalb – zum Glück! – ein stärkerer Fokus auf die Terrassen gelegt. Mehr Grün sei, so die Planer*innen, in einer Stadt mit so schlechtem Wetter kaum möglich. Auch für die Kieznähe ist gesorgt: Zur Freude aller – legalen – Sprayer*innen ist der gesamte Sockel des Gebäudes bis einschließlich der achten Etage „aus nacktem Beton, der in der untersten Etage mit Graffitikunst oder ähnlichem verziert werden kann“.
Die ersten acht Geschosse sollen einer öffentlichen bis halböffentlichen Nutzung zugeführt werden. In den ersten beiden Etagen soll es Cafés, Restaurants, Veranstaltungsräume und zur Tamara-Danz-Straße hin auch eine große Fahrradwerkstatt geben. Und auf dem Dach sei eine Skybar geplant. Von dort aus kann dann auf alle angrenzenden Hochhaus-Prestigeobjekte geblickt werden. Na prima!
Seit den Medienberichten in den letzten Jahren bleiben viele Fragen offen, insbesondere was den Einbezug lokaler Organisationen sowie der angemahnten Bürgerbeteiligung im Laufe des Planungsprozesses angeht. „Es muss noch genauer herausgearbeitet werden, wie genau die lokalen Akteure mit einbezogen werden sollen“, sagte Lüscher im September 2018. Sie wünsche sich deshalb, dass das Projekt noch einmal vorstellig werde. Im März 2019 hieß es dann erneut seitens Lüscher: „Der Bezirk handelt im Moment parallel zur architektonischen Gestaltung genau aus, wieviel öffentlich zugängliche Nutzung da untergebracht werden soll“. Einbezug von Anrainer*innen? Fehlanzeige. Nach den aktuellsten Berichten von Ende September scheint das Baukollegium immer noch nicht zufrieden zu sein. Das zu Beginn vorgegebene Thema „wild und rau“ zur besseren Integration des Hochhauses im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sei nicht adäquat umgesetzt worden. Dumm nur, dass der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg das Projekt bereits genehmigt hat.
Amazons Zugriff auf Berlin
Es geht also um mehr Nutzwert für den existierenden Kiez. Scheinbar. Naja, dafür gibt es kaum eine bessere Lösung als Amazon einzuladen, die wahren Expert*innen einer sozialfreundlichen Wirtschaft. Die raue und wilde Graffitikunst am eleganten Betonsockel soll also künftig tausenden IT-Entwickler*innen des Konzerns den Weg zum Büro verschönern.
Dabei ist die Anzahl der Amazon-Mitarbeiter*innen im Raum Berlin-Brandenburg jetzt schon beachtlich: Neben den 1000 Entwickler*innen arbeiten weitere 1800 Personen für die Hörbuch-Tochter Audible, im Kundenservice und vor allem den Logistikzentren in Brieselang und Kiekebusch bei Schönefeld. In den nächsten Jahren soll das Arbeitsangebot vor allem im Softwarebereich massiv um tausende Plätze erweitert werden; davon zeugen zahlreiche Jobausschreibungen auf der Unternehmensseite. Dafür braucht es Platz, die bisherigen Coworkingspaces reichen dafür nicht aus. Das bisherige Entwicklungszentrum mit etwa 500 Mitarbeitenden befindet sich hinter dem Springer-Hochhaus in Berlin-Mitte, bei den Krausenhöfen. Am Petri-Platz im alten Kaufhaus Hertzog entsteht ein weiterer Standort. Amazon spielt mit dem Gedanken, beide Standort auch nach Fertigstellung des Hochhaus beizubehalten.
Die Softwareentwickler*innen sollen an den bekanntesten Projekten von Amazon mitarbeiten. Darunter fallen etwa die Weiterentwicklungen des Sprachassistenten Alexa oder eines der lukrativsten Sparten des Konzerns, den Amazon web services und die Bereitstellung von Cloudkapazitäten. Die Hoffnung ist, in den nächsten Jahren tausende Entwickler*innen nach Berlin zu locken und, inmitten einem der wichtigsten Märkte des Internetgiganten, ein Mekka der Innovation zu erschaffen. Parallel scheint die Expansion des Amazon-Handels im öffentlichen Raum auf keine Grenzen zu stoßen: In Filialen von Handelsketten wie DM, REWE und anderen finden sich vermehrt Amazon Packstationen; in einigen Karstadt-Filialen stehen sogenannte Amazon Locker, Packstationen, in die Amazon-Kunden ihre Päckchen bestellen und dort während der Geschäftszeiten abholen können. Karstadt geht sogar noch einen Schritt weiter und plant richtige Amazon-Counter. Ob die Kaufhauskette so ihr Überleben sichern kann ist allerdings mehr als fraglich. Irgendwann kommen Jeff Bezos Drohnen und machen die altbackene Art von Zwischenhandel überflüssig – mit allen Konsequenzen für die Beschäftigten.In der Berichterstattung oder in den Statements der öffentlichen Stellen spielt die bisherige Kritik an Amazon bezüglich Arbeitsbedingungen in Fullfilment Centers (ver.di organisiert dort seit Jahren Streiks in den Betrieben) oder die Nichtzahlung von Steuern bisher keine Rolle – nicht im Tagesspiegel, wo die Nachricht als erstes die Runde machte, und natürlich nicht bei der Vorstellung der Zusammenarbeit durch EDGE selbst. Lediglich die Berliner Morgenpost erwähnte am Rande den Tweet von Blockupy Berlin: #kickitlikegoogle.
Von New York lernen…
Dabei kann sich Berlin in Punkto Widerstand gegen Großvorhaben von Internetgiganten durchaus sehen lassen. Der geplante Google-Campus scheiterte im letzten Jahr an den lokalen Protesten von Einwohner*innen und Aktivist*innen. Dem Google Deutschland-Management war zu vernehmen, dass die „Fuck off google“ Transparente und die Berichte in der Presse enormen Schaden verursacht haben.
Auch Amazon selbst scheiterte schon mit einem prestigeträchtigen Riesen-Projekt, wenngleich an anderem Ort. In New York City wurden die Pläne von Jeff Bezos, mit einem riesigen Firmen-Campus ein neues Hauptquartier des Unternehmens im Stadtteil Queens zu bauen, und in der Zwischenzeit ebenfalls wie in Berlin einen Turm zu beziehen, von kontinuierlichen Protesten durchkreuzt und mussten schließlich im Februar 2019 aufgegeben werden. Antigentrifizierungsgruppen wie Queens Neigborhood United liefen von Haustür zu Haustür und mobilisierten gemeinsam mit anderen Gruppen die lokalen communities. Während der Prozess sich zuspitzte, verband der Kampf die Menschen im Viertel mit antirassistischen Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen, die schon länger gegen die Ausbeutung durch Amazon und anderen Firmen ankämpften. Sie befürchteten ähnlich schreckliche Auswirkungen wie in Seattle, wo sich das erste Hauptquartier von Amazon befindet. Die Stadt leidet mittlerweile unter enormer Obdachlosigkeit, Verdrängung und Gentrifizierung. Das „Geheimrezept“ der Protestierenden in NYC hat funktioniert, und setzte sich aus drei zentralen Bausteinen zusammen:
Community organizing: Wenn sie von „Tür zu Tür“ sagen dann meinen sie das auch. Nicht nur Stadtteilgruppen, aber auch linke Organisationen betrieben echtes canvassing nach dem Vorbild erfolgreicher linker Wahlkampagnen (die wiederum historisch inspiriert sind von community Organizer*innen wie Saul Alinsky). Wer um die Jahreswende 2018-2019 in New York war wird dies bestätigen können: Es wurden öffentliche Treffen in Schulen organisiert, Mieterversammlungen organisiert (am prominentesten bei den Queensbridge projects) und aktivistische Workshops zum progressiven nicht-hierarchischen organizing angeboten. Gruppen wie Queens Neigborhood United schauen auf eine lange Erfolgsgeschichte zurück: Auch die Händlerriesen Walmart und Target konnten bisher in NYC nicht Fuß fassen. Ihnen wurde vorgeworfen, das soziale Netz zu zerstören und die kleinen Geschäfte zur Schließung zu bewegen. Dieses Selbstvertrauen wurde mit dem Sieg über Amazon erneut bestätigt und bildet die Basis für zukünftige Kämpfe gegen Großkonzerne.
Themen verbinden und die Fronten multiplizieren lassen: Sicherlich war Gentrifizierung eines der stärksten Themen der Bewegung. Für die Aktivierung weiterer Verbündeter war aber auch die Strategie zentral, anderen Machenschaften des Imperiums anzusprechen und zu skandalisieren: Obgleich es vielleicht schon zuvor bekannt sein mochte, wie Amazon die Arbeiter*innen in den Logistikzentren weltweit behandelt, brachte das Aufgreifen der Thematik Arbeitsbedingungen weitere (prekär) Beschäftigte und ihre Gewerkschaften ins Spiel. Amazon machte in den letzten Jahren häufig Schlagzeilen über Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden – mit Höhepunkt der Bereitstellung von Gesichtserkennungs-Software an ICE, der US-Abschiebebehörde. Es war daher ein leichtes, von den zumeist migrantischen Aktivist*innen aus Queens, NYC eine Brücke zu weiteren antirassistischen Kämpfen zu schlagen. Anarchistische Gruppen präsentierten dazu noch eine antikapitalistische und unversöhnliche Perspektive mit dem System Amazon. Sozialistische Organisationen wie die Party for Socialism and Liberation richteten durch ihr eigenes community organizing auch den Fokus auf die anti-Amazon Kampagne. Gemeinsamer Konsens von allen Akteur*innen war dabei, dass es auf keinen Fall einen Deal geben soll, sondern Amazon komplett unterwünscht ist. Das ganze Paket trug schließlich zum Erfolg bei.
Imageschaden und Öffentlichkeitsarbeit: Die Aktivist*innen in New York City schafften es, in großen Teilen der Nachbarschaft eine negative Stimmung gegen Amazon und die kapitalnahen Politspieler*innen – etwa denGouverneur Andrew Cuomo, der von Anfang an Amazon willkommen hieß – zu schaffen. Die Losung war einfach: „New York City is a union town and a sanctuary city“ („Die Stadt New York ist eine Gewerkschaftsstadt und ein Rückzugsort“, Anm. Red.). Die Beteiligten machten ihre Entschlossenheit deutlich, einen solchen massiven Eingriff in die sozialen und ökonomischen Strukturen des Stadtteils nicht mit sich machen zu lassen. Die verschiedenen Themen gaben enorm Stoff her: Bei Facebook-Gruppen informierten sich die Menschen gegenseitig, und dann wurde via sozialer Medien zum Angriff angeblasen. Der Widerstand war dann bei den Townhall-Meetings, den öffentlichen Anhörungen von Amazon im Rathaus, so stark, dass sogar Gegenmobilisierungen von gelben Gewerkschaften aus dem Bausektor dem Feind nicht mehr helfen konnten.
Sich organisieren gegen den Tech-Angriff
Die aktuelle Situation in Berlin kann nicht besser beschrieben werden als von den Menschen die dort wohnen und aktiv sind, etwa der Stadtteilgruppe Bizim Kiez:
„Zalando mit einem corporate-Viertel in Friedrichshain, Amazon in einem Wolkenkratzer an der Warschauer Brücke und die Lieferando-Zentrale mit 20.000 QM im Cuvry-Campus im Wrangelkiez. Auf beiden Seiten der Spree zwischen Schlesi und Warschauer Str. scheint ein Hotspot der Tech-Konzerne zu entstehen. Während Google noch versuchte, seinen Campus im Umspannwerk als klein und kiezfreundlich zu verkaufen, werden hier die Dimensionen ersichtlich, in denen Big-Tech die Stadtentwicklung beeinflusst.
Dass das Umwälzungen bringt, die in den anliegenden Nachbarschaften bis ganz nach unten reichen, muss eigentlich nicht mehr erklärt werden. Weil mit Raum und Boden spekuliert werden kann, bringt jede Ansiedlung “wertvoller“ Unternehmen erhöhte Preise, die sich die Immo-Wirtschaft mit allen Mitteln der Verdrängung auch bezahlen lässt. Das bedroht bestehende Kleingewerbe- und Wohnmietverhältnisse.
Das beliebte Argument, die Unternehmen brächten Arbeitsplätze, zieht übrigens nicht. Denn nicht alle Arten von Arbeit in der schillernden Tech-Welt werden so gut bezahlt, dass sie die explodierenden Mietpreise in der City decken (man denke z.B. an Reinigungskräfte oder eben die Lieferando-Fahrer*innen). Übrigens – auch darum brauchen wir einen Mietendeckel! Abgesehen davon ist es einfach nur zynisch zu behaupten, dass die Reduktion der Vielfalt der Bewohner*innen in Innenstadtgebieten dadurch wett gemacht wird, dass nun lauter Angestellte von Amazon, Zalando, Google & Co in deren alten Wohnungen wohnen. Die Neoliberalen, die sowas behaupten, zeigen dabei, wie blind sie auf dem sozialen Auge sind.“
Das Projekt von EDGE und Amazon in Berlin ist ein Schlag ins Gesicht von all jenen, die sich in den letzten Monaten und Jahren für niedrigere Mieten, (Re-)Kommunalisierung oder eine offene Stadt für alle eingesetzt haben. Trotz riesiger Demonstrationen zum Thema Wohnungspolitik, zahlreicher Mieter*innenkämpfe, großer schlagkräftiger Kampagnen wie „Deutsche Wohnen enteignen“ oder der Verhinderung des Google-Campus in Kreuzberg scheint die Politik dem Großkapital alles durchgehen zu lassen. Berlin wird regelrecht von außen verändert – ohne die Zustimmung der lokalen Bevölkerung. Die herum liegenden E-Roller, das Geräusch von Rollkoffern und Läden für Yuppie-Bedarf jeder Art sind die Vorzeichen dieses Umbaus und der Vertreibung. Jetzt gilt es für uns alle vor allem relativ schnell zu reagieren – und für eine andere Zukunft Berlins zu streiten. Ohne Google, Zalando und Amazon. Die Herrschenden werden aus den letzten Kämpfen ihre Lektion gelernt haben und ein Greenwashing organisieren. Sie haben sich auch schon schlau angestellt, den Endkunden Amazon so lange zu verschleiern. Der Bau, der im Moment beginnt und 2023 enden soll, wird schwierig zu stoppen sein. Aber den Einzug von Amazon zu verhindern – das könnte ein realistischer Plan werden. Es gilt, wie in New York das Thema Gentrifizierung mit anderen Themen, insbesondere dem jahrelangen Kampf der Amazon Beschäftigten um andere Arbeitsbedingungen, zu verbinden. Wir müssen klar erzählen, wer in der Skybar erwünscht sein wird und wer nicht. Dafür müssen wir zusammenkommen: Mieter*innen, Buchläden und Einzelhandel, Migrant*innen, Amazon-Beschäftigte in Logistikzentren und Tech-Worker*innen, Stadtteilgruppen und Antigentrifizierungskampagnen. Es lebe die neue zukünftige Anti-Amazon Koalition in Berlin!